Ein Hauptthema von Walnuss & Gewebe in Gelsenkirchen ist das Textilhandwerk. Damit greifen wir einen wesentlichen Teil der historischen Wirtschaftsstruktur der Stadt Gelsenkirchen auf, die Bekleidungsindustrie:

Das Ruhrgebiet entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem regionalen Standort der Bekleidungsindustrie in der Bundesrepublik.1 Insbesondere die Stadt Gelsenkirchen nahm hier eine herausragende Stellung ein und förderte gezielt die Ansiedlung ehemaliger ostdeutscher Bekleidungsbetriebe. Die Unternehmen erhielten u. a. Unterstützung bei der Beschaffung von Betriebsräumen, Maschinen und Rohstoffen sowie später Grundstücken für Neubauten.2 Die Bekleidungsunternehmer ließen sich zunächst in großen Kaufhäusern nieder.3

Modenschau des Textilhauses Kogge an der Bahnhofstraße (1952)

Blick in die Bahnhofstraße (1951)

In der Bahnhofstraße begannen Firmen wie Norenberg & Krause und Henning & Eckert mit der Produktion von Herrenbekleidung. In der Hochstraße in Buer, im Kaufhaus Althoff, ließ sich u. a. die Firma Geppert & Co. nieder, die Damenmäntel fertigte.4
Der Großteil der Gelsenkirchener Firmen spezialisierte sich auf die Herstellung von Oberbekleidung. Hergestellt wurde insbesondere „praktische und preiswerte Gebrauchskleidung“ 5, die in Fachkreisen als „Gelsenkirchener Genre“6 bezeichnet wurde.
In den folgenden Jahren entwickelte sich die Bekleidungsindustrie in Gelsenkirchen zum fünften Standbein neben Kohle, Eisen, Glas und Chemie.7 Als Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre die Bekleidungsindustrie stark florierte, entstanden neue Produktionszentren in der Stadt.8 In der Dickampstraße zogen etwa die Damenoberbekleidungsfirma Hubert Kogge (HUKO) sowie die Herrenbekleidungsbetriebe Norenberg & Krause, Henning & Eckert und die Wäschefabrik Schlüter ein.9

Näherinnen der Firma Bekleidungsunion
Harald Feilgenhauer (1950)

Bekleidungsfirma Hubert Kogge in der Dickampstraße

Am Nordring errichteten Firmen, wie Napieralla & Sohn, Witschel & Markmann, Roemisch & Sohn und das Bekleidungswerk Wilken, Produktionsgebäude.10 Als Vorbild für den Einsatz moderner, industrieller Produktionstechnik galt die Bekleidungsunion Harald Feilgenhauer in der Zeppelinallee. Der Einsatz neuester Spezialmaschinen und Fließbänder und die Beschleunigung sowie Vertaktung des Produktionsprozesses erlaubten hier die Massenfertigung von Kleidungsstücken.11

Bekleidungsfabriken am Nordring in Gelsenkirchen-Buer

Bekleidungsunion Harald Feilgenhauer in der Zeppelinallee (1950)

Eurovia Textil GmbH in Resse (1967)

Trotz der späten Ansiedlung weiterer Bekleidungsunternehmen, wie der Eurovia Textil GmbH12, leitete bereits Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre die abnehmende Nachfrage nach Bekleidung die Textilkrise ein.13 Auch die erhöhte Konkurrenz zu anderen Branchen um weibliche Arbeitskräfte verstärkte den Niedergang der Bekleidungsindustrie in Gelsenkirchen.14 Die zunehmende Verlagerung der Produktion ins Ausland führte schließlich dazu, dass nur noch wenige Unternehmen vor Ort produzierten.15
Obwohl die Produktion von Kleidung und anderen Textilien in Gelsenkirchen heute eine eher untergeordnete Rolle einnimmt, eröffnen sich im Hinblick auf die Herstellung nachhaltiger, lokal produzierter Produkte neue Möglichkeiten. Die Herstellung von Textilien und Bekleidung, einst eine wichtige wirtschaftliche Säule der Stadt, kann wieder ins Bewusstsein der Menschen rücken, indem aktuelle Trends, zukünftige Entwicklungspfade und regionale Kooperationsmöglichkeiten beleuchtet werden. Dazu haben wir in unseren drei Intensivwochen verschiedene Veranstaltungen geplant, darunter einen Vernetzungsabend „Textil aus’m Pott“, einen Themenabend „Fast-Fashion vs. Fair-Fashion“, einen Vortrag zu Innovationen im Textilbereich, einen Workshop zu Gründungen im Textilbereich sowie Werkstätten, in denen wir Näh- und Häkelprojekte umsetzen möchten, zu denen Sie herzlich eingeladen sind.
Quelle der Fotos: Institut für Stadtgeschichte (ISG)

1. Beese, B.; Schneider, B. (2001): Arbeit an der Mode. Zur Geschichte der Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet. Essen, S. 10.

2. Schneider, B. (2001): Der lokale Neuaufbau im Ruhrgebiet 1945-1955. In: Beese, B.; Schneider, B. (Hg.): Arbeit an der Mode. Zur Geschichte der Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet. Essen, S. 26, 29 f.

3. ebd., S. 16, 30 f.

4. ebd., S. 30 f.

5. ebd., S. 34.

6. ebd.

7. Lassotta, A.; Schneider, B. (o. J.): Die Bekleidungsindustrie: Strukturwandel und Frauenarbeitsplätze. https://www.lwl.org/aufbau-west/LWL/Kultur/Aufbau_West/wiederaufbau/bekleidungsindustrie/wandel/index_html.html#aufschwung [letzter Zugriff: 13.07.2021].

8. Schneider, B. (2001): Der lokale Neuaufbau im Ruhrgebiet 1945-1955. In: Beese, B.; Schneider, B. (Hg.): Arbeit an der Mode. Zur Geschichte der Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet. Essen, S. 44.

9. ebd., S. 44 f.

10. ebd., S. 48.

11. ebd., S. 46; Schneider, B. (2001): Produktion für den neuen Modemarkt 1955-1970. In: Beese, B.; Schneider, B. (Hg.): Arbeit an der Mode. Zur Geschichte der Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet. Essen, 80 f.

12. Schneider, B. (2001): Produktion für den neuen Modemarkt 1955-1970. In: Beese, B.; Schneider, B. (Hg.): Arbeit an der Mode. Zur Geschichte der Bekleidungsindustrie im     Ruhrgebiet. Essen, S. 75 f.

13. ebd., S. 68; Beese, B. (2001): Die Internationalisierung der Bekleidungsproduktion nach 1970. In: Beese, B.; Schneider, B. (Hg.): Arbeit an der Mode. Zur Geschichte der Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet. Essen, S. 112.

14. Schneider, B. (2001): Produktion für den neuen Modemarkt 1955-1970. In: Beese, B.; Schneider, B. (Hg.): Arbeit an der Mode. Zur Geschichte der Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet. Essen, S. 90, 70.

15. Beese, B. (2001): Die Internationalisierung der Bekleidungsproduktion nach 1970. In: Beese, B.; Schneider, B. (Hg.): Arbeit an der Mode. Zur Geschichte der Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet. Essen, S. 111 f., 131.