Wie kann es gelingen, unter dem Handlungsdruck des Klimawandels Wirtschaft so zu gestalten, dass die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Herausforderungen unserer Gesellschaft gleichermaßen berücksichtigt und gelöst werden? Welche Möglichkeiten gibt es, die Entwicklung grüner Infrastruktur mit tragfähigen Geschäftsmodellen zu verbinden, die zur Lösung dieser Herausforderungen beitragen?
Unter anderem diesen Fragen haben wir uns beim Themenabend zu Urbaner Landwirtschaft am 20.8.2021 im Rahmen unserer „Walnuss&Gewebe“-Zwischennutzung in der St. Joseph-Kirche in Schalke gewidmet. Zwei Vortragende waren zu Gast: Karin Kudla betreut das Projekt „Wirtschaftsförderung 4.0“ in Witten, Rolf Morgenstern beschäftigt sich am Fachbereich Agrarwirtschaft der FH Südwestfalen mit der Entwicklung neuer Konzepte für Urbane Landwirtschaft.
Karin hatte in sich bereits in ihrer Masterarbeit in Wirtschaftswissenschaften mit klimaschützender Landwirtschaft auseinandergesetzt. Dies ist auch weiterhin eine Aufgabe, der sie sich bei der Wirtschaftsförderung Witten im Projekt Wifö 4.0 widmet. Die Grundlage für das Projekt schaffte die Forschung und Entwicklung vom Team um Michael Kopatz vom Wuppertal Institut. Es geht um ein erweitertes Verständnis von Wirtschaft und deren Förderung, mit besonderem Fokus darauf, gemeinschaftliche Initiativen (z.B. aus dem Bereich der Sharing Economy) zu entwickeln und zu einer wirtschaftlichen Tragfähigkeit zu qualifizieren.
Dabei soll regionale Wertschöpfung stärker unterstützt, Pioniere und Pionierinnen des Wandels gefördert und eine nachhaltige Transformation der Wirtschaft aktiv begleitet werden. Das Projekt zielt auch auf den Ausbau von Rekrutierungspotentialen, einer Verbesserung von Klimaschutz und Ressourcenschonung und der Entwicklung von Impulsen für technische und soziale Innovationen. Neben Witten sind die Modellkommunen Osnabrück, Wuppertal und Witzenhausen.
Konkret organisiert Karin Angebote in Form von Beratung, Netzwerkarbeit, Öffentlichkeitsarbeit und kümmert sich um Herausforderungen wie die Nachnutzung von Leerständen, die Entwicklung von Regionalregalen, gibt Inspiration zu Geschäftsmodellen, z.B. in Form von Sharing-Konzepten, kooperiert mit Wohnungsbaugenossenschaften und entwickelt in allen Bereichen Veranstaltungsformate, die zur Information der Bevölkerung und Weiterentwicklung von Ideen beitragen. Ihr Arbeitsverständnis liegt darin, die Stadt Witten zur Türöffnerin und Möglichmacherin werden zu lassen – davon sollen auch andere Städte lernen können.
Das Projekt bringt Idealisten und Realisten zusammen. Wir müssen Zukunft einfach machen! (Karin Kudla, Wirtschaftsförderung 4.0, Stadt Witten)
Zuletzt hat sie die Schirmherrschaft des Wittener Bürgermeisters für die Ausstellung „Urbane Produktion“ gewinnen können. Die wurde im Zuge der Nachhaltigkeitswochen unter anderem in einem ehemaligen Kaufhof-Gebäude gezeigt. Während des Ausstellungszeitraums wurden mehr als 25 Veranstaltungen – vom Webinar bis zum Mitmachangebot gemeinsam mit den Partnern der Wirtschaftsförderung 4.0 erfolgreich umgesetzt. In Kooperation mit „Witten wurzelt“ wurden kostenlos Gemüse-Jungpflanzen zur Verfügung zu stellen. Im Schaufenster eines Leerstandes moderierte Karin das erste Stadtgespräch – mit den Machern der Pottkutsche, die ein für die Nutzerinnen kostenfreies Lastenrad angeschafft haben.
Dreh- und Angelpunkt der vielseitigen Aktivitäten ist die im Amt für Bodenmanagement und Wirtschaftsförderung angesiedelte Projektstelle „Wirtschaftsförderung 4.0“. So gelingt die unkomplizierte Verknüpfung mit den Aktivitäten der Stadt unter anderem in den Bereichen Innenstadtentwicklung und Gründungsunterstützung. Gut angekommen sind auch neue Informationsangebote z.B. zur Förderung von Ladeinfrastruktur für E-Autos für die größeren Unternehmen in der Stadt.
Wir brauchen auch und besonders die großen Unternehmen für die nachhaltige Transformation! (Karin Kudla, Wirtschaftsförderung 4.0, Stadt Witten)
Trotzdem ist es für Karin auch wichtig, eine möglichst große Breitenwirkung zu erzielen, z.B. mit niederschwelligen Angeboten auch Menschen zu erreichen, die sich noch nicht mit der Thematik auseinandergesetzt haben. Ziel müsse es daher sein, auch aufsuchende Beratung durchzuführen und Aktivitäten und Projekte sichtbarzumachen, die es schon gibt.
Rolf Morgenstern begann seinen Vortrag mit einem Quiz: Wieviel Prozent der Fläche des Ruhrgebiets werden für Landwirtschaft genutzt? Es sind 42%, mit negativer Tendenz. Rolf arbeitet im Fachbereich für Argrarwirtschaft an der FH Südwestfalen am Standort Soest.
In Soest werden normalerweise Agraringenieure ausgebildet. Dort herrscht die Meinung vor „Landwirtschaft ist, wenn man mit dem Trecker drüberfahren kann“. (Rolf Morgenstern, Fachbereich Agrarwirtschaft, FH Südwestfalen)
Landwirtschaft besteht aus der Forstwirtschaft, aus dem Ackerbau (also Kartoffeln, Getreide, Öl, „was satt macht), aus dem Gartenbau (also Obst und Gemüse) sowie der Nutztierhaltung. Die Produktmengen sind im Bereich des Ackerbaus um ein vielfaches größer als im Gartenbau. Innerhalb von Städten können Rolf zufolge niemals die Mengen der Produkte hervorgebracht werden, die im Ackerbau der „traditionellen“ Landwirtschaft entstehen. Wenn man von urbaner Landwirtschaft spricht, ist damit meistens also stadtnahe Produktion gemeint, und in diesem Fall eher Gartenbau, der in Form von Dachbegrünung, Vertikaler Landwirtschaft oder auf Restflächen durchaus zu einer erhöhten Produktionsmenge beitragen kann.
Für die Landwirtschaft in der Stadt bleibt die Herausforderung, dass es sich oft um kleine (kleinste) Flächen handelt, die für Akteure der traditionellen Landwirtschaft aus wirtschaftlichen Gründen nicht interessant sind, vor allem wegen der geringen Größe und den fehlenden Skaleneffekten. Zwar gibt es in den Städten, insbesondere im Ruhrgebiet, viele Flächen, die zumindest theoretisch nennenswerte Größe hätten, z.B. Brachflächen. Aber oft sind die Eigentumsverhältnisse unklar, es gibt keine Ansprechpartner oder die Flächen können wegen einem hohen Genehmigungsaufwand nicht kurzfristig erschlossen werden. Zudem sind die Flächen fast immer deutlich teurer als im Umland. Ein Quadratmeter Agrarland kostet bis 3€, ein Quadratmeter Wohnbauland allerdings 250-500€. Ein Gewächshaus auf dem Dach kostet wegen der zusätzlichen Anforderungen an Sicherheit und Statik generell 150.000€ mehr! Zudem sind Bauvorhaben wie Gewächshäuser im Innenbereich der Städte mit deutlich höherem Verwaltungs- und Genehmigungsaufwand verbunden, während z.B. Landwirte im Außenbereich genehmigungsfrei Gewächshäuser errichten dürfen.
So ist Lebensmittelproduktion in der „klassischen“ Form im innerstädtischen Bereich grundsätzlich nicht rentabel. Allerdings, so Rolf, ist der Boden in der Stadt eben nicht nur teurer, sondern auch wertvoller. Der Nutzen von Gemüseanbau muss eben nicht nur in dem „Produkt Tomate“ liegen, sondern kann auch positive soziale und ökologische Effekte erzielen, z.B. Zusammenkunft, Selbstwirksamkeit, Biodiversität, Klimaschutz und-resilienz, Entwässerung usw. – damit einher gehen natürlich deutlich komplexere Akteurskonstellationen und Multi-Stakeholder-Situationen, in denen viele verschiedene Interessen zusammenkommen. Darauf müssen sich sowohl die Menschen einlassen, die in erster Linie Landwirtschaft betreiben wollen, aber auch die Organisationen und Menschen, die das finanzieren müssen. Wer profitiert wann und wie? Es sollte ein größeres Augenmerk darauf gelegt werden, die Verantwortung gut zu organisieren. Es ist auch für die Projekte selbst wichtig, sich nicht nur auf ehrenamtliches Engagement zu verlassen, sondern tragfähige Geschäftsmodelle zu entwickeln, die auch den Lebensunterhalt der handelnden Personen sichern können.
Ein gutes Beispiel für ein Geschäftsmodell ist das rent-a-field-Konzept, oder Mietgartenkonzept. Hier kommt die Landwirtin durch eine Verpachtung einer agraischen Fläche an viele Kleinnutzer aus einer Produktionslogik in eine Dienstleistungslogik: Der Boden muss bestellt werden, ansonsten wird man unabhängig vom Absatzmarkt der Erzeugnisse. Dazu können sich „Cross-Selling-Effekte“ ergeben wie der Absatz eigener Produkte über einen Hofladen. Dieses Konzept will Rolf im Horizon-2020-Projekt progireg.eu auf aquaponische Gewächshäuser übertragen. Auf dem Gelände der Kokerei Hansa in Dortmund sollen zwei 300m²-Gewächshäuser entstehen, die u.a. für die umsetzungsorientierte Erforschung dieses Geschäftsmodells dienen sollen, mit Aufenthaltsflächen und einem direkten Anschluss an hochwertige Gastronomie auf dem Gelände der Zeche. Der Ort soll auch der Bildung benachteiligter Gruppen dienen. Allerdings hat es in diesem Projekt bisher große Herausforderungen in der Bauantragstellung gegeben.
Rolf stellte dann noch die weiteren Aktivitäten vor, die die FH im Rahmen des Horizon 2020 Forschungsprojekts progireg.eu plant und durchführt: Auf dem Gelände der Kirchengemeinde St. Urbanus in Dortmund Huckarde ist ein Urbaner Waldgarten im Entstehen, in dem die Prinzipien der Permakultur in einem Co-Design-Prozess mit den Gemeindemitgliedern und Pfadfinderinnen erforscht und umgesetzt wurden. Im Sinne des Ziels der Förderung der Biodiversität wurde außerdem das Konzept der „Naturfelder“ aus Issum auf Dortmund übertragen, wo ein neuer Verein „Naturfelder Dortmund“ sich künftig um die Organisation von Blühpflanzenansiedlungen kümmern wird.
In der folgenden Diskussion ging es dann sehr stark um die nötigen strukturellen Veränderungen, die für die Erschließung der Potentiale Urbaner Landwirtschaft nötig sind. Rolf berichtete, dass es bei der Realisierung von Projekten auf Flächen im Innenbereich der Überwindung großer Hürden bedarf, die durch die Bauordnung und teilweise träge Verwaltungsstrukturen entstehen. Er kritisierte, dass auf Sachbearbeitungsebene oft keine Entscheidungen gefällt werden können, die die Beantragung und Umsetzung erleichterten. Er habe oft erlebt, wie idealistische und engagierte Menschen in den Verwaltungen oft „gegen Wände laufen“ und dann aufgeben. Er wünscht sich mehr „Möglichmachen“, eine Einstellung, die man im Ruhrbiet mit seiner „Machermentalität“ doch eigentlich haben müsste. Das konnte von den Teilnehmerinnen anekdotisch bestätigt werden.
Karin berichtete von der Herausforderung, Menschen von den positiven Effekten augenscheinlich geringwirtschaftlicher Projekte zu überzeugen. Eine Teilnehmerin berichtete von den Erfahrungen aus dem Feld der Kultur- und Kreativwirtschaft, die vor der Agenda zur Kulturhauptstadt Ruhr2010 als positiver Wirtschaftsfaktor auch eher belächelt wurde. In der Folge wurde nochmal darauf hingewiesen, dass auch die Urbane Landwirtschaft ihre Effekte nachweisen müsse. Dies sei jedoch manchmal schwierig, da die Systemgrenzen teilweise unklar sind. Es ginge auch immer um Optimierung des Status-Quo, aber manchmal sei das Optimum bei vielen Input- und Outputfaktoren nicht ganz klar, so Rolf. Er nannte das Beispiel eines Apfels, den man im Mai kauft. Solle man den lieber aus Neuseeland importieren, obwohl der Apfel dann viele Flugmeilen sammeln würde? Oder lieber aus Deutschland, wo der Apfel dann seit dem Herbst gekühlt wurde? Die Antwort ist: Im Mai keinen Apfel zu kaufen.
Alle Teilnehmerinnen waren sich einig, dass viele der Konzepte theoretisch auf dem Tisch lägen. Nun sei es an der Zeit, Mut zu beweisen, die Dinge umzusetzen – und die Menschen zu unterstützen, die es machen wollen.